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Kriminologe kritisiert Sachsens Umgang mit Bagatelldelikten: Dafür, dass eine Null-Toleranz-Politik strafrechtliche Rückfälligkeit verhindert, existieren keine Belege

Der Tübinger Kriminologe Prof. Dr. Jörg Kinzig hat Sachsens Umgang mit Bagatelldelikten kritisiert. >>Dafür, dass eine Null-Toleranz-Politik strafrechtliche Rückfälligkeit verhindert, existieren keine Belege<<, schreibt er in einem Beitrag der aktuellen Ausgabe (Nr. 4/2019) der ‚Kriminalpolitischen Zeitschrift‘. Er untersucht darin die Rundverfügung des Sächsischen Generalstaatsanwalts Hans Strobl aus dem März 2019, mit der die sächsischen Staatsanwaltschaften angewiesen wurden, insbesondere Bagatelldelikte öfter zur Anklage zu bringen und die Ermittlungsverfahren seltener gegen Auflagen einzustellen.
>>Die Begründungen für die Notwendigkeit einer schärferen Sanktionierung der Bagatellkriminalität in Sachsen überzeugen nicht>>, heißt es in dem Beitrag weiter. Prof. Kinzig weist darauf hin, dass Sachsens Staatsanwaltschaften schon im Jahr 2017 im Bundesvergleich überdurchschnittlich viele Anklagen erhoben haben (Sachsen: in 10,5 Prozent der Ermittlungsverfahren, Bund: 8,7 Prozent) und unterdurchschnittlich oft Ermittlungsverfahren wegen geringer Schuld oder ähnlichem eingestellt wurden (Sachsen: 54,6 Prozent, Bund: 57 Prozent).

„Die von Justizminister Sebastian Gemkow unterstützte Rundverfügung muss vom Tisch“, fordert Katja Meier, rechtspolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag.
„Getrieben von der Angst vor dem Wahlverlust und dem weiteren Erstarken der Verfassungsfeinde hat sich diese Staatsregierung einer Strategie der Symbolpolitik verschrieben, gegen Fachkunde, fachliche Substanz und Vernunft. Das Ergebnis dieser Strategie stärkt nur die Schreihälse. Sie schwächt den Rechtsstaat und eine Politik, die auf wissenschaftlicher Erkenntnis und Vernunft basiert.“
„Für eine reibungslos funktionierende rechtsstaatliche Strafjustiz im Freistaat braucht es Augenmaß und gesunden Menschenverstand statt diesen Law-and-Order-Populismus.“

„Mehr als drei Viertel der Sächsinnen und Sachsen fühlen sich in ihrem Umfeld sicher, wie nicht nur der Sachsen-Monitor 2018 ergab. Das widerspricht klar der Erzählung von ‚rechtsfreien Räumen‘, die immer wieder von Ministerpräsident Michael Kretschmer, seinem Justizminister und dessen Generalstaatsanwalt als Begründung für ihre Null-Toleranz-Politik zu hören sind. Mit der Rundverfügung werden auf Kosten des rechtsstaatlichen Grundprinzips der Verhältnismäßigkeit zweifellos bestehende Ängste in der Bevölkerung künstlich bedient und verstärkt. Das ist Gefühlspolitik contra Faktenlage.“

„Mit der Rundverfügung des Generalstaatsanwalts werden zudem grundlegende Entscheidungen des Bundesgesetzgebers bewusst konterkariert und Teile der Strafprozessordnung (StPO) ausgehöhlt“, kritisiert die Abgeordnete.

„Gerade bei Bagatelldelikten soll die Justiz durch die gesetzliche Möglichkeit der Verfahrenseinstellung bei geringer Schwere der Schuld entlastet werden. Dazu wird den Staatsanwaltschaften ein Ermessen eingeräumt, das der sächsische Generalstaatsanwalt in seinen Äußerungen leider immer wieder verneint.“
„Bagatellkriminalität verhindert man am effektivsten mit präventiven Hilfestellungen, da sie oftmals aus sozialer Not heraus entsteht“, erläutert Meier. „Die Bevölkerung und Opfer von Straftaten müssen außerdem besser über den Ablauf von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren informiert werden, um die Entscheidungen der Behörden besser nachvollziehen zu können. Das schafft Verständnis für und Vertrauen in den Rechtsstaat.“

Weitere Informationen:
» Auszug aus der Ausgabe 4/2019 der Fachzeitschrift ‚Kriminalpolitische Zeitschrift‘ mit Beiträgen zur Diskussion von Prof. Dr. Elisa Hoven, Generalstaatsanwalt Hans Strobl und Prof. Dr. Jörg Kinzig

Hintergrund:
» Publikation des Statistischen Bundesamts ‚Rechtspflege, Staatsanwaltschaften, 2017‘ (Fachserie 10, Reihe 2.6)

» GRÜNE Pressemitteilungen zur Rundverfügung von Generalstaatsanwalt Hans Strobl vom 14.02.2019 und 28.02.2019

» Rede der Abgeordneten Katja Meier zur Landtagsdebatte um die Rundverfügungen des Generalstaatsanwalts am 13.03.2019

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