Große Anfrage Fußverkehr − Meier: Die Staatsregierung unterschätzt die Potenziale des Fußverkehrs systematisch und entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse

 
Rede der Abgeordneten Katja Meier zur Großen Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Fußverkehr in Sachsen“ (Drs 6/8838)
59. Sitzung des Sächsischen Landtags, 31. August, TOP 9
 
– Es gilt das gesprochene Wort –
 
 
Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
erst gestern haben wir hier gemeinsam den Landesentwicklungsbericht Sachsen 2015 im Plenum besprochen. Dort können Sie die folgenden, wunderschönen Sätze zum Thema Fußverkehr und Nahmobilität nachlesen:
„Fahrrad- und Fußgängerverkehr sind wichtige Bestandteile einer nachhaltigen Mobilität. Die Bedeutung der Nahmobilität zu Fuß oder mit dem Fahrrad nimmt insbesondere im urbanen Raum zu. Fußgänger beleben Innenstädte und Stadtteilzentren. Einzelhandel, Dienstleister und Gastronomie gewinnen durch größere Nähe zu ihren Kunden. Fahrrad- und Fußgängerverkehr werden zu wichtigen Bestandteilen eines integrierten Verkehrssystems. Voraussetzungen dafür sind eine bedarfsgerechte und sichere Infrastruktur sowie der barrierefreie Zugang.“
Ich hätte es kaum schöner formulieren können.
 
Beim Blick in den Koalitionsvertrag von CDU und SPD reduziert sich die Zahl der Sätze zum Fußverkehr auf zwei.
Die beiden, die es gibt, will ich ihnen aber nicht vorenthalten: „Ein umfassendes urbanes Mobilitätskonzept ist sinnvollerweise Grundlage städtischer Verkehrspolitik. Wir fördern durch Kommunikationsmaßnahmen und Modellprojekte deren Umsetzung, insbesondere für den Fußgänger- und Radverkehr.“ Das war dann so ziemlich alles, was wir zum Thema Fußverkehr an öffentlichen Verlautbarungen finden konnten.
 
Gelegenheit nun mehr Licht ins Dunkel zu bringen, haben wir der Staatsregierung mit unserer Großen Anfrage „Fußverkehr in Sachsen“ gegeben.
Die Auskunftsfreudigkeit der Regierung auf unsere über 160 Fragen blieb allerdings begrenzt. Dass sie so wenig Ambition und Interesse am Thema zeigen, hat selbst uns überrascht. Die Staatsregierung unterschätzt die Potenziale des Fußverkehrs systematisch und entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Offenbar ist sich die Regierung dieser Diskrepanz auch selbst bewusst – bemüht sie sich doch nicht einmal um eine ordentliche Analyse der Situation. Bei der Erhebung des Modal Split und den Prognosen zur Verkehrsmittelwahl für 2025 wird der Anteil des Rad- und Fußverkehrs im Gegensatz zu allen anderen Bundesländern und auch den sächsischen Städten nicht einmal im Einzelnen aufgeschlüsselt. Diese Leerstelle ist ein sächsisches Novum.
 
In den anderen Bundesländern wird die Anzahl der mit dem Rad und zu Fuß zurückgelegten Wege im Modal Split extra erfasst. Bundesweit wurden Anteile des Fußverkehrs am Modal Split zwi­schen 21 und 25 Prozent gemessen.
Warum dies ausgerechnet in Sachsen nicht möglich sein soll, bleibt unerklärlich. Für politische Entscheidungen werden jedoch vielfach harte Zahlen gefordert. Wenn konkrete Zahlen fehlen, führt dies zu einer systematischen Unterschätzung des Rad- und Fußverkehrs in seiner quantitativen und ökonomischen Bedeutung – sowohl als eigenständige Mobilität wie auch als Bindeglied zwischen den Verkehrsmitteln.
Da der Anteil des Fußverkehrs an der Gesamtwegezahl in Sachsen nicht gesondert erhoben wird, benennt die Staatsregierung auch kein konkretes, auf den Modal Split bezogenes Ausbauziel.
Das allgemeine Ziel, den Modal Split „zugunsten des umweltfreundlichen Verkehrs zu beeinflussen“, wird nicht näher beschrieben. Unter umweltfreundlichen Verkehr versteht man üblicherweise in der Fachwelt Fuß-, Radverkehr und ÖPNV.
Konkrete Ziele sehen anders aus.
Die Förderung unterschiedlicher Verkehrsarten bedarf durchaus auch unterschiedlicher Strategien und unterschiedlicher Planungen, das scheint für CDU und SPD allerdings irrelevant zu sein. Minister Dulig zieht sich in den Antworten in der Großen Anfrage immer wieder darauf zurück, dass Fußverkehr Sache der Kommunen sei. Gezielte und strategische Unterstützung durch das Land finden die Kommunen beim Thema Fußverkehr nicht.
Mit der Planung von Gehwegabschnitten an Staats- und Bundesstraßen werden die Kommunen allein und unkontrolliert gelassen, denn eine Netzkonzeption ist für die Förderung nicht erforderlich.
Sachsen hat eine Verwaltungsvorschrift zur Schulwegsicherung und Beförderung von SchülerInnen erlassen und muss gerade bei den Staats- und Bundesstraßen Verantwortung übernehmen.
 
Wie das im praktischen aussieht, durfte ich am Freitag vergangener Woche bei einer Radtour mit mehr als 100 AnwohnerInnen in Mügeln erleben. Dort liegen zwei Grundschulen an einer autobahnähnlich ausgebauten Staatsstraße, Rad- und Gehweg wurden beim Bau vom Landesamt für Straßenbau und Verkehr als überflüssig empfunden. Sie haben dort keine andere Chance als die Kinder täglich mit dem Auto zu fahren oder sie den Bus benutzen zu lassen, alles andere wäre lebensgefährlich. Der Besuch der Grundschüler im zwei Kilometer entfernten Freibad ist zu Fuß oder mit dem Fahrrad überhaupt nicht möglich. Das ist eine rein autozentrierte Verkehrspolitik, wie sie wirklich fast nur noch in Sachsen überlebt hat.
 
Ja, viele Stellschrauben zur Förderung des Fußverkehrs liegen auf der kommunalen Ebene, aber auch Sachsen hat Handlungsspielräume. Doch diese werden überhaupt nicht genutzt.
 
Es gibt in Sachsen im verantwortlichen Wirtschaftsministerium keine einzige Person, die sich systematisch mit Fußverkehr beschäftigt. Es gibt keine Fußverkehrsstrategie, keine Zielvorstellungen, keine kommunale Beratung, gar nichts. Für die Jugendverkehrsschulen stellt das Land nur 70.000 Euro jährlich zur Verfügung – im Vergleich zu anderen Ländern ein Tropfen auf den heißen Stein.
 
Generell genießt Fußverkehrspolitik in anderen Bundesländern einen deutlich höheren Stellenwert.
Einige Länder betreiben schon seit Jahren eine aktive und engagierte Fußverkehrsförderung und haben sich zum Ziel gesetzt den Fußverkehrsanteil zu erhöhen – wie z.B. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen. Dazu gehört die Einrichtung einer landesweiten Koordinierungsstelle für den Fußverkehr (BW), die Verabschiedung einer Fußverkehrsstrategie (Berlin), die Einrichtung einer Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität Hessen (AGNH) und die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Kreise und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen (AGFS NRW).
 
Sowohl das Ministerium für Verkehr in Baden-Württemberg als auch das hessische Verkehrsministerium unterstützen Kommunen darüber hinaus bei der Durchführung eines professionellen Fußverkehrs-Checks bzw. Nahmobilitäts-Checks. Bei diesem partizipativen Verfahren bewerten Bürgerinnen und Bürger, Politik und Verwaltung gemeinsam die Situation des Fußverkehrs vor Ort. In Workshops und Begehungen erfassen sie die Stärken und Schwächen im örtlichen Fußverkehr und erarbeiten Vorschläge, wie die Wege zu Fuß künftig noch attraktiver und sicherer gestaltet werden können.
 
All dies ist bisher Zukunftsmusik. Dabei muss es ja aber nicht bleiben.
Blicken Sie doch mal über den sächsischen Tellerrand. Einige Beispiele aus anderen Bundesländern habe ich Ihnen ja bereits aufgezeigt.
Aber es lohnt sich auch über die nationalen Grenzen zu schauen: Österreich, Schweiz, Finnland, Norwegen, Schottland, Wales, Kalifornien und noch einige Länder und Regionen mehr haben eine Fußverkehrs- bzw. Nahmobilitätsstrategie entwickelt. All diese Länder haben das Potential und die Notwenigkeit für die Förderung der Nahmobilität erkannt. Ich kann Sie nur ermutigen: Nahmobilitätsförderung ist ein politisches Gewinnerthema. Und im Vergleich zu anderen Infrastrukturmaßnahmen können mit Rad- und Fußverkehr mit vergleichsweise geringem finanziellen und zeitlichem Aufwand messbare Erfolge nicht nur bei der Gestaltung und Entwicklung von Städten und Dörfern erzielt werden, sondern auch drängende Probleme wie Lärm- und Schadstoffbelastungen erheblich gemindert werden.
 
Mit unserem Entschließungsantrag liegt Ihnen nun das Angebot vor, das Zu-Fuß-Gehen endlich als eigenständige Verkehrsart ernst zu nehmen und auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage angemessen zu unterstützen.
Im Kern fordern wir endlich sowohl für den Rad- als auch den Fußverkehr eigenständige Untersuchungen, wie sich der Anteil am Modal Split in Sachsen entwickelt. Auf dieser Analyse muss eine landesweite Fußverkehrsstrategie aufbauen, die das klar definierte Ziel hat, den Anteil der in Sachsen zu Fuß zurückgelegten Wege signifikant zu erhöhen. Dazu braucht es endlich im für Verkehrsplanung zuständigen Ministerium eine Koordinierungsstelle Nahmobilität.
Sie erinnern sich: Bislang genau Null Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sachsen, die sich dem Fußverkehr widmen und für den Radverkehr sieht’s nicht viel besser aus!
Diese Koordinierungsstelle soll vor allem die Kommunen zu Fördermöglichkeiten beraten.
 
Und wir fordern bis zum 31.12.2017 endlich eine personell gut ausgestattete sächsische Arbeitsgemeinschaft fahrrad- und fußgängerfreundlicher Städte (AGFS) zu etablieren.
In dieser können sich Kommunen zusammenschließen, die vor Ort für den Rad- und Fußverkehr Verbesserungen erreichen wollen.
Hier gilt es Wissenstransfer zu organisieren, die Kommunen bei Grundlagenforschung zu unterstützen, Weiterbildungen und Fachkonferenzen für kommunale Akteure zu organisieren, Synergien zu nutzen und best practice Beispiele bekannter zu machen.
Kleiner Tipp: Das funktioniert in anderen Bundesländern hervorragend.
 
Und wenn Sie ernsthaft Interesse daran hätten, dann überdenken Sie bitte nochmal Ihre Strategie. Über den sächsischen Städte- und Gemeindetag unverbindlich abzufragen, wer daran Interesse hätte verbunden mit der Botschaft, dass eine Mitgliedschaft Geld kostet, ist nicht so der Burner. Könnte man auch proaktiv, bejahender und den Nutzen für Kommunen hervorhebender machen.
Und etliche Dezernenten und Bürgermeisterinnen in Sachsen haben mir glaubhaft versichert, keinerlei Anfrage für die Gründung einer solchen AGFS bekommen zu haben.
 
Koordinierende Landesmittel für den Fußverkehr wären natürlich auch nicht schlecht.
In den nächsten Haushaltsverhandlungen werden wir selbstverständlich wieder die finanziell untersetzten Anträge auch für den Ausbau des Fußverkehrs vorlegen.
 
Ach und übrigens, Sie erinnern sich noch an den eingangs von mir zitierten Koalitionsvertrag? An die dort vereinbarten Kommunikationsmaßnahmen und Modellprojekte für den Fußgängerverkehr? Ja? Umgesetzt wurden davon in Sachsen bisher genau 0.
Aber zwei Jahre haben Sie ja noch Zeit.
Am besten Sie starten jetzt und heute mit der Zustimmung zu unse­rem Entschließungsantrag.
 
 
 

 

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